Ein Bericht des Mannheimer Morgen vom 24.04.2010

 

Hobby mit viel Antrieb

Schiffchen basteln oder mit der Eisenbahn spielen? Viel zu normal! Modellbauer in Vaihingen gehen lieber ab wie eine Rakete - im wahrsten Sinne des Wortes.

Von Alexander Jungert

Der Countdown läuft. Nur noch wenige Sekunden bis zum Start. Drei, zwei, eins... und ab! Die Rakete zischt, Rauch kommt auf, sie düst hoch, blitzschnell geht es, bis die Rakete nur noch ganz klein am Himmel zu sehen ist. Dann geht ihr Fallschirm auf, das Geschoss treibt durch den Wind ab und landet ein paar Minuten später irgendwo auf dem Acker. Doch Karlheinz Gulich freut sich: Der Start ist geglückt. Ein Traum von einem Abschuss.

Willkommen auf der Raketenbasis der Hobbygruppe Vaihingen/Enz (HGV). Leiter Gulich baut Modellraketen, er ist fasziniert von ihnen, genauso wie die anderen Mitglieder seiner Gruppe, die an einem Sonntagnachmittag auf einen Acker bei Vaihingen gekommen sind. Der Himmel ist leicht bewölkt, ab und zu fallen ein paar Regentropfen. Langsam kommt die Sonne durch, trotzdem ist es frisch. Gulich, 51 Jahre, schwarz gerahmte Brille, Schildkappe, hat seinen rot-gelben Fleecepulli bis zum Hals hoch gezogen. "Nicht viele Leute haben unser Hobby", sagt er und klingt dabei stolz auf das Außergewöhnliche. Sein Geld verdient er in der Arbeitsvorbereitung eines Automobilzulieferers. "Mal ehrlich: Wen begeistert ein Raketenstart nicht?"

Flossen aus Balsaholz

Im Kofferraum seines Autos liegen die Modellraketen. Sie sind unterschiedlich groß, die meisten zwischen einem halben und einem Meter. Gulich nimmt eine heraus und zeigt den Aufbau: Das sogenannte Körperrohr kann unter anderem aus Pappe oder Kunststoff bestehen, die Raketenspitze aus leichten Materialien wie Styrodur, die Flossen sind meist aus Balsaholz. Zum Start wird die Rakete auf den Leitstab der Startrampe geschoben. Gulich hat sich seine Rampe aus einem Notenständer gebastelt. Neben den Raketen liegt der Materialkoffer, darin: Zangen, Kleber und Treibsätze. Die Treibsätze sind aus dem Fachhandel und unterscheiden sich in der Stärke, das heißt nach dem Anteil des Schwarzpulvers und dessen Abbrandverhalten. Mehr als 20 Gramm Treibmittel sind in Deutschland aber nicht frei erhältlich, zudem dürfen es nur Erwachsene kaufen.

Mittlerweile stehen mehrere Raketen am Feldweg hin zum Acker in Startposition. Gulichs Gruppenkollegen nehmen die letzten Handgriffe vor. Zwei Spaziergänger mit Hund bleiben neugierig stehen. Und eine Familie ist extra aus der Gegend von Zürich angereist, um den Raketen über Vaihingen zuzuschauen.

Über 1000 Kilometer pro Stunde

Je nach Stärke des Antriebs fliegen die Raketen mit 200 bis über 1000 Kilometern pro Stunde. Um ihre Flughöhe von mehreren Hundert Metern zu erreichen, brauchen sie zwischen vier und 20 Sekunden. Das Startfeld sollte weit sein und ohne Stromleitungen in der Nähe. Überall in die Luft gehen dürfen die Modelle nicht, schließlich könnten sie zum Beispiel einen Segelflieger treffen. "Es gibt eine Art Straßenkarte der Luft, auf der der unkontrollierte Luftraum eingezeichnet ist", erklärt Gulich, "nur dort dürfen wir Raketen fliegen lassen."

Der Treibsatz enthält neben der "Treibladung" eine "Verzögerungsladung" und eine "Auswurfladung". Sie sorgt am Gipfelpunkt der Rakete für einen Überdruck im Innern des Modells. Folglich wird die Spitze vom Raketenkörper abgetrennt und der Fallschirm geht auf. Die Fallschirme gibt es fertig zu kaufen, aber die Hobbygruppe bastelt auch hier selbst - meist mit Rettungsfolie, die Autofahrer aus dem Erste-Hilfe-Kasten kennen. So landen die Raketen sicher auf der Erde. Die Flugbahn lässt sich berechnen, aber je nach Wind muss der Modellbauer schon viele Meter laufen, um die gelandete Rakete aufzusammeln. Danach kann er die Spitze wieder draufsetzen - und einfach einen neuen Treibsatz einbauen. Für den nächsten Flug.

Wenige Kilometer vom Acker, in der Innenstadt von Vaihingen, befindet sich in einem kleinen Raum des evangelischen Jugendwerkes die Werkstatt der HGV. An der Wand hängen Zeichnungen von Modellen, auf einer Tafel stehen kreuz und quer Zahlen und Berechnungen. Einmal die Woche trifft sich die Gruppe, dann werkelt sie wie Daniel Düsentrieb und entwickelt auch neue Antriebe. Für Wasserraketen etwa. Sie fliegen mit Druckluft und Wasser, und das schon 100 Meter hoch. Ihr Wissen gibt die Hobbygruppe weiter: Mit der Hochschule Heilbronn steht sie im Austausch, vor kurzem erst gab es einen Workshop mit Schülern.

Zurück auf dem Startgelände. Karlheinz Gulich will zum Abschluss ein skurriles Objekt fliegen lassen, ein Modell aus Papier, hergestellt nach einer Vorlage aus dem Internet. Drei, zwei, eins, zisch!, nach dem Start Überschlag, dann Eiferflug, Bruchlandung. "Das war der kürzeste Flug der Geschichte", sagt Gulich. Die anderen auf dem Feld lachen. Das nächste Mal werden sie weiter experimentieren. Es macht eben Spaß, ein Hobby zu haben, das so ganz anders ist als die anderen.

Mannheimer Morgen

24. April 2010




 

Stand: 18.01.14